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Die Boxgruppe des Centralbahnhofs hatte 1997 eine neue Videoanlage bekommen und dabei ganz auf die Beständigkeit von Magnetbändern mit einem Sonderformat gesetzt. Nachdem Sofi den Schock überwunden hatte, rief bei der Boxgruppe an, um ihrem Ärger durch Schimpfen Luft zu machen, aber der Chef rechnete ihr vor, wie viele Kameras im Bahnhofsgebäude rund um die Uhr filmten. Die Aufzeichnungen mussten lange aufbewahrt werden, zum Beispiel für Fälle wie diesen. Außerdem mussten sich die Magnetbänder erst amortisieren, bis im Jahre 2020 das digitale Zeitalter in der Boxgruppe einziehen würde.

Sofi lief durch das Polizeigebäude. In der Personalabteilung hatte sie schließlich Glück. Die Archivarin gestattete ihr, das alte Bandlesegerät aus ihrem Computer auszubauen und für einige Stunden mitzunehmen.

Zuerst musste Sofi den gesamten Inhalt auf ihren Computer überspielen und die riesige Archivdatei umwandeln. Drei Stunden und vierzehn Minuten surrte das Gerät vor sich hin. Das Umwandeln selbst dauerte nur eine halbe Stunde. Sie rief Henning und Barbro herbei und trug den Computer von ihrem Büro in den Besprechungsraum, wo sie schon den Projektor aufgebaut hatte.

Sofi suchte in der Datei nach der richtigen Stelle. Das Schließfach war um 10 Uhr 08 gemietet worden. Zu ihrem Erstaunen war das Bild in sechs Felder unterteilt. Jedes davon zeigte die Aufzeichnung einer anderen Kamera. Die unteren drei Felder zeigten die Gänge mit den Schließfächern. Oben sah man die Umgebung, auf dem ersten Bild den Korridor, auf dem zweiten die nahe Toilette und den Schuhservice. Die dritte Kamera blickte durch den Korridor hinaus zu dem langen Verbindungsgang und zeigte einen ständigen Strom von Menschen zwischen der U-Bahn und den Pendelzügen hin und her eilen.

Sofi zog den Zeitzeiger vorwärts und erwischte eine nahe Stelle um 9 Uhr 52. Sie drückte auf langsamen Vorlauf.

„Halt!“, rief Barbro. „Warte mal.“

Sofi hielt das Band an.

„Seht mal“ sagte Barbro. „Bei Fach 609 leuchtet die rote Lampe. Und es steckt kein Schlüssel im Schloss. Also ist das Fach besetzt. Wenn das Fach jetzt nicht frei ist, wie kann dann jemand in einer Viertelstunde das Fach mieten?“

„Wahrscheinlich kommt der jetzige Mieter erst noch und räumt es“, vermutete Henning und gab zuviel Milch in seinen Kaffee.

Barbro schnalzte mit der Zunge. „Fast alle anderen Fächer sind frei. Das wäre doch ein riesiger Zufall.“

„Am besten warten wir einfach“, schlug Sofi vor.

Die Zeit verging langsam. Sofi wagte nicht vorzuspulen, weil ja noch vor dem Zeitpunkt um 10 Uhr 08 jemand kommen musste, um das Fach zu leeren.

Niemand kam.

Um 10 Uhr 07 trat eine Frau ins Bild. Die drei beugten sich alarmiert vor. Die Frau kniete sich auf den Boden und steckte den Schlüssel ins Schloss. Henning fluchte. Die Klappe öffnete sich in Richtung Kamera und verdeckte die Öffnung.

Sofi seufzte. „Der Koffer muss längst drin sein. Sie hat ihn nicht mitgebracht.“

„Das ist Fabia“, sagte Barbro knapp.

Bisher hatte man die Frau nur von hinten gesehen. Jetzt kniete sie vor dem Schließfach, aber man sah nur ihr Profil. Henning und Sofi schwiegen.

„Sie ist es, glaubt mir.“

„Wir müssen nur weiterschauen“, schlug Sofi vor. „Auf dem Rückweg sehen wir sie von vorne.“

„Es kann nicht Fabia sein“, brummte Henning. „Sie kommt erst einen Tag später in Stockholm an.“

Die Frau zog etwas Schweres aus dem Fach. Das konnte der Koffer sein, aber leider ragte der Gegenstand nicht weit genug heraus.

Sofi drückte auf Pause und ging zur Wand. Sie musste sich strecken, um auf die Stelle in der Projektion deuten zu können. „Hier! Der Schatten auf dem Boden. Der muss vom Koffer stammen.“

Henning nickte. „Wahrscheinlich hat sie ihn geöffnet. Lass es weiterlaufen.“

Die Frau drückte den Gegenstand wieder ins Fach und schloss die Tür. Sie warf fünf Münzen ein.

„Das können nur drei Zehner und zwei Fünfer sein“, kommentierte Sofi und machte sich eine Notiz. „Die Miete beträgt vierzig.“

„Verdammte Scheiße!“ Henning sprang auf und machte einen Satz. „Barbro, du hattest recht! Sie ist es!“

Barbro und Sofi zuckten zusammen. Henning drehte kleine Runden neben dem Tisch.

„Moment mal“, sagte Barbro mit betonter Ruhe. „Du hast doch behauptet, sie könne es nicht sein, weil das hier am Donnerstag passiert und Fabia Terni erst vierundzwanzig Stunden später aus Rom eintrifft. Lass uns ganz ruhig überlegen.“

Statt ruhig zu überlegen, wies Henning Sofi an, in das rechte obere Bild hineinzuzoomen, wo man im Hintergrund den Zeitschriftenkiosk leuchten sah.

„Nicht durchs Schaufenster“, schimpfte Henning. „Die Tafel mit den Laufzetteln außen. Ich will die Schlagzeile sehen.“

Sie brauchten einige Minuten, bis sie endlich den Aufreißer vom Abendblatt entziffert hatten: ‚Student erschummelt sich Studienplatz‘.

„Den daneben auch noch“, befahl Henning.

Barbro seufzte. „Warum das?“

„Vielleicht haben sie den ersten nicht ausgetauscht.“

Im Express versprach der Staatsminister mehr Jobs im öffentlichen Dienst.

Henning lief hinüber ins Büro. Kurz darauf hörten sie ihn telefonieren. Barbro und Sofi grinsten einander zu. Sie hatten noch nie erlebt, dass Henning so aus dem Gleichgewicht geriet.

Henning kehrte zurück. „Es sind die Laufzettel vom Donnerstag.“

„Es ist ja auch das Donnerstagsband“, sagte Sofi und duckte sich lieber.

„Ja, aber die können sich vertan haben.“

„Dann stimmt unsere Theorie“, glaubte Barbro. „Fabia und Maero bekommen den Schlüssel zugeschickt. Maero schickt Fabia zum Schließfach. Und darin wartet die Botschaft.“

Henning hörte zu und schüttelte dann den Kopf, als wollte er den Gedanken nicht wahrhaben. „Das kann nicht Fabia sein. Wir haben die Kamera am Gate überprüft. Sie ist wirklich am Freitag in diesem Flugzeug gewesen.“

Zehn Minuten später stürmten die drei durch die Tür der Tatorttechnik. Alle neun Techniker sahen von ihren Mikroskopen auf und drehten den Kopf.

Henning stand wie ein Cowboy in der Tür. „Wo ist Per?“

„Außentermin“, sagte Pers Assistent Lasse.

„Das macht nichts. Habt ihr die Münzen aus dem Schließfach gesichert?“

„Wir sitzen noch an den Partikelfolien. Wißt ihr, wie viel Arbeit das ist?“

Sofi drängte sich an Henning vorbei und lief zu den blauen Plastikkästen, die in einer langen Reihe am Fenstertisch warteten. Sofi entdeckte den Beutel mit den Münzen.

„Ihr müsst alle Münzen auf T1-Übereinstimmungen prüfen. Fang mit den Fünfern an. Die sind größer.“

Zurück im Büro musste Sofi ein wenig herumprobieren, bis sie herausfand, wie man den Film rückwärts laufen lassen konnte. Sie vergrößerte den Ausschnitt und erhöhte die Geschwindigkeit. Das Ereignis trat viel früher ein, als sie erwartet hatten. Der Schlüssel musste übergeben worden sein, ein Versenden kam nicht in Frage. Denn um 8 Uhr 17, gerade mal zwei Stunden, bevor die Frau ans Schließfach trat, kam ein Mann in den Gang. Er trug den Koffer bei sich und entschied sich erst nach einigem Zögern für das Fach 609. Er drehte sich mehrmals um die eigene Achse und war dabei gut zu erkennen. Sofi notierte sich, dass er die Nummern nicht prüfte, das Fach 609 also nur nach seiner Lage auswählte.

Das Gesicht des Mannes sagte keinem der drei etwas. Er hatte kurzes schwarzes Haar und war bestimmt Italiener. Nachdem er den Koffer verstaut hatte und aus dem Bild verschwunden war, erhob sich Henning von seinem Stuhl. Er war wieder in seine gewohnte Gemächlichkeit zurückgefallen und trottete hinüber ins Büro.

Von dort kehrte er mit der aufgeschlagenen Ermittlungsakte zurück. „Die Beschreibung des Todesfahrers ist zwar nur grob, stimmt aber mit diesem Mann hier überein.“

Sofi zuckte mit den Achseln. „Immerhin können wir jetzt Fahndungsfotos machen.“

Henning rief bei der Technischen an. Er wollte gerade losreden, hielt jedoch inne. Am Ende hob er den Daumen und gab Lasse vor dem Auflegen die Anweisung, alle anderen Abdrücke auf den restlichen Münzen zu sichern und mit der Datenbank zu vergleichen. Die Abdrücke auf den Münzen stammten von Fabia Terni.

Sie schwiegen. Jeder dachte vor sich hin.

„Vielleicht sollten wir in Rom anrufen“ schlug Sofi vor. „Sichergehen, dass sie dort eingestiegen ist.“

„Sie muss noch am Donnerstag nach Rom geflogen sein und dann am Freitag wieder zurück“, sagte Barbro.

„Das ergibt keinen Sinn“, behauptete Sofi. „Wir wissen aus den Passagierlisten, dass sie das nicht getan hat. Am Donnerstag taucht ihr Name nicht auf. Wenn sie sich bereits vorher in Stockholm aufgehalten hat, muss sie irgendwann mit einem anderen Namen eingereist und am Donnerstag mit diesem falschen Namen wieder ausgereist sein. Einen Tag später kehrt sie als Fabia Terni zurück, ihrer wahren Identität. Und vor allem: Mit ihrem diplomatischen Status. Das ist das wichtige daran.“

Henning hob erneut den Daumen. Diese Theorie behagte ihm. „Vielleicht hat sich in ihrer Tasche Geld befunden. Das konnte sie nur als Diplomatin durch den Zoll bringen.“

Er hob den Telefonhörer ab und setzte seine Lesebrille auf, bevor er die Nummer der Antimafia wählte.

„Antimafia. Julander am Apparat.“

Barbro stöhnte laut. Der Deadhead hatte also schon das Kommando übernommen und sich an die Spitze der italienischen Antimafia gesetzt.

„Hallo Theresa“, kicherte Henning. „Schön, deine Stimme zu hören.“

Theresa wechselte ins Schwedische. „Hallo Henning. Wie geht’s euch?“

„Kannst du etwas für uns tun? Wir brauchen einen Videobeweis dafür, dass Fabia Terni am vergangenen Freitag in Rom ins Flugzeug gestiegen ist.“

„Sie ist es“, sagte Theresa knapp. „Das haben wir schon überprüft. Sie stieg hier mit derselben Tasche und in derselben Kleidung ein, mit der sie in Arlanda angekommen ist.“

„Wieso habt ihr das überprüft?“, rief Barbro hinüber zum Hörer.

„Es gibt Unstimmigkeiten. Wir suchen hier nach Kollegen oder Bekannten, die Fabia kennen und identifizieren können.“

„Warum?“, fragte Henning.

„Das Außenministerium speichert die Fingerabdrücke seiner Diplomaten. Und da sie für Afrika medizinisch besonders betreut werden muss, gibt es auch ein Karyogramm. Wir haben ein Problem. Beides ist nicht mit unserer Toten identisch.“

03 - Der kopflose Engel
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